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Ein Nazi-Rätsel?
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Zur Einweihung des Holocaust-Mahnmals in Berlin (10.Mai 2005) und zum 60.Jahrestag der Kapitulation Deutschlands im 2. Weltkrieg (8. Mai 2005) schrieb Michael Naumann in der „Zeit“, das Mahnmal sei „rätselhaft wie das numinose Stonehenge. Aber sechs Millionen Tote sind kein Rätsel.“ Kein Rätsel, so möchte man hinzufügen, sondern ein historisches Faktum, das die menschlichen Möglichkeiten des Begreifens übersteigt und das zwangsläufig die Frage nach sich zieht: Wie war das möglich? Doch Geschichtsforschung, sowie Soziologie und Sozialpsychologie können erklären, wie es dazu kommen konnte. Es bleiben hier keine Rätsel, meinte Raymond bereits 1979. Der Aufstieg Hitlers, sein Erfolg bei den Deutschen, die Terrorherrschaft seiner Partei, der Krieg und die Vernichtung der Juden bergen kein Geheimnis. Allein die Person Hitlers, die letzten Motive dieses Monstrums in Menschengestalt, blieben letztlich mit den Kategorien der Rationalität nicht vollständig fassbar. Und ohne die Person Hitlers sind die Ereignisse in den letzten sieben Jahren des Regimes zwischen 1938 und 1945 nicht zu verstehen. Raymond Aron in seinem Aufsatz von 1979:

 

„Ein Mensch nur, und soviel Tod und Zerstörung? Nein, sicher nicht. Jedes andere nationale Regime in Deutschland hätte in jedem Fall versucht, eine Revision des historischen Urteils von 1918 zu erreichen. Der Versuch hätte einem anderen Weg folgen können. Aber von 1938 bis 1945 wird die Ge­schichte des III. Reiches weder durch die Krise des Monopolkapitalismus, noch durch die Ängste der Kleinbürger, und auch nicht durch den deutschen Nationalismus definiert. Sie deckt sich mit dem Abenteuer Hitlers. Chaplins

Friseur oder ein Genie des Bösen? Die Debatte über diesen Mann ist nicht abgeschlossen, und sie wird niemals abgeschlossen sein. Ein jeder nimmt sein kümmerliches Bündel an Geheimnissen mit ins Grab.“

 


Nachfolgender Aufsatz ist ursprünglich erschienen in der Zeitschrift Commentaire im Jahr 1979; mit einem Nachtrag auch in Encounter 1980. Der Artikel wird hier in Auszügen wieder gegeben. Der integrale Text ist enthalten in "Raymond Aron: Deutschland und der Nationalsozialismus", herausgegeben von Joachim Stark, Opladen 1993

Raymond Aron
 
Gibt es ein Nazi-Rätsel?

Bleibt der Nazismus sechsundvierzig Jahre nach seinem Sieg und vierunddreißig Jahre nach seiner Niederlage noch rätselhaft?

Bleibt die Frage nach dem Nazismus offen? Geht die Debatte über die Natur des Nationalsozialismus noch immer weiter? Die Antwort liegt gewisserma­ßen auf der Hand: die Debatte geht weiter. Aber kann eine Deutung durch die Anhäufung von Fakten, durch gelehrte Forschung und durch die Methoden der Sozialwissenschaft bestätigt oder widerlegt werden? Worin besteht „das Problem des Nazismus"? Welches sind die Fragen, die man berechtigterweise stellen kann und die eine Antwort erlauben?

Nehmen wir an, daß ein Historiker folgende Frage formuliert: warum, durch welche Umstände bedingt, hat sich ein Volk von hoher Kultur einem Demagogen wie Hitler ausgeliefert und warum ist es ihm bis zum Ende, fast bis in den nationalen Selbstmord gefolgt? So gestellt wird das Nazi-Problem niemals eine befriedigende Antwort erhalten bzw. - und dies läuft auf das­selbe hinaus - auf sie können mehrere Antworten gegeben werden, von de­nen keine gänzlich falsch ist, die aber alle zusammengenommen unbefriedi­gend bleiben. Hingegen sind von der Geschichtsschreibung auf die meisten Warum-Fragen, die einen Aspekt des nationalsozialistischen Gesamtkomple­xes betreffen, plausible oder gesicherte Antworten gegeben worden.

Warum hat der Nationalsozialismus unter den verschiedenen Bewegungen und Ideologien Millionen von Wählern und Anhängern mobilisiert, während die übrigen als Sekten dahinvegetierten? Weil Hitler sich als charismatischer Führer erwies; weil er im Unterschied zu den anderen eine erprobte Propa­ganda-Technik anwandte, weil er eine Sprache fand, die den jeweiligen Er­wartungen einer jeden Gruppe angepaßt war, weil seine Themen (Nationalismus, Anklage der Monopole und des internationalen Kapitalis­mus, Eintreten für die Kleinen) bei den orientierungslosesten und unent­schlossensten Mittelklassen Widerhall fand. Weder das Volk, noch die füh­renden Kreise hatten den Vertrag von Versailles akzeptiert. Die nationale Welle begann vor der Krise von 1929 und vor der Arbeitslosigkeit anzu­schwellen. Aber zwischen den Wahlen von 1928 und jenen vom September 1930 liegt der wirtschaftliche Zusammenbruch. Die Verzehnfachung der na­tionalsozialistischen Wähler in zwei Jahren ist zum großen Teil auf die Krise zurückzuführen.

Den Deutsch-Nationalen gelang es nicht, zu einer Massenpartei zu wer­den. Im Europa der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte eine Reaktion, die wie eine Restauration erschien, kaum Erfolgschancen. Vielleicht zogen die führenden Kreise der Industrie, insbesondere der Schwerindustrie, Papen Hitler vor, aber das Papen-Experiment war von vornherein zum Scheitern verurteilt, auch wenn der General Schleicher es nicht torpediert hätte.

Warum wurde Hitler durch einen legalen Vorgang zum Reichskanzler? Weil das parlamentarische System gelähmt war. Da die kommunistische Partei in der Opposition festgenagelt war und die Deutsch-Nationalen und die Nationalsozialisten dazu entschlossen waren, die verfassungstreuen Parteien, also die Sozialdemokraten und das Zentrum, von der Macht zu verjagen, blieb nach dem Scheitern Franz von Papens und Schleichers keine andere legale Alternative, als die nationale Koalition. Die Entlassung Brünings durch den alten Marschall und die Entlassung der sozialdemokratischen Re­gierung in Preußen durch Papen führten in die Sackgasse, aus der allein Hit­ler einen Ausweg bot. Die Finanzhilfen, die er von bestimmten Industriellen und Bankiers erhielt, trugen zu seinem Erfolg bei. Die anhaltende Feind­schaft der Repräsentanten des Großkapitalismus nicht nur gegenüber den Kommunisten, sondern auch gegenüber den Sozialdemokraten, sowie der von den Kommunisten bis zum Schluß geführte Kampf gegen die „Sozialverräter" bereiteten ebenfalls die nationale Revolution vor.

Kann man sagen, daß Hitlers Erlangung der Macht nach den historisch-soziographischen Studien aufhört, ein Rätsel zu sein, daß aber die Unterwer­fung eines ganzen Volkes sowie die Passivität der Sozialisten und der Kom­munisten unverständlich bleiben? In Berlin habe ich, ohne daß ich über ir­gendwelche Informationen verfügte, nicht einen Augenblick an eine Revolte der Sozialisten oder der Kommunisten geglaubt. Wie hätten sich diese beiden Arbeiterparteien von einem Tag zum anderen zum Kampf mit der Waffe in der Hand verbünden können? Am 30. Juni 1934 hat sich Hitler die Unterstüt­zung der Reichswehr gesichert, indem er die zweite Revolution ausschloß und dazu die SA-Führer eliminierte, die den Kern einer anderen Armee auf­bauen wollten, und indem er einige der konspirierenden Konservativen und möglichen Rivalen ermordete (Gregor Strasser, General Schleicher). Als Nachfolger des Marschalls Hindenburg, gestärkt durch den auf seine Person geleisteten Eid der Offiziere, gab Hitler den Arbeitslosen Arbeit, ließ er die Unternehmer Profite machen und stellte die Nationalisten (die Masse des Volkes) durch unverhoffte Erfolge zufrieden (allgemeine Wehrpflicht, Wie­derbesetzung des Rheinlands).

Auch hier wird die Untersuchung der jeweiligen Verantwortlichkeit der verschiedenen Wirtschaftsgruppierungen für die ganz oben getroffenen Ent­scheidungen die gegenwärtig gesicherten Resultate kaum verändern. Von 1933 bis 1936 leitete Schacht die deutsche Wirtschaft in Übereinstimmung mit den Hauptorganisationen der Arbeitgeber. Er wurde bald zum Verlassen des Kabinetts gezwungen, da er gegen den Vierjahresplan und die Aufrü­stung war. Die Wirtschaft des III. Reiches erschien niemals als ein originel­les, geplantes und von einem doktrinären Willen aufgezwungenes Regime. Die Unternehmer leiteten weiterhin die Betriebe mit Hinblick auf Produktion, Produktivität und Profit. Der Vierjahresplan war nur sinnvoll in Bezug auf den Krieg. Sicher, gleichzeitig bildete sich eine nationalsozialistische Organi­sation der Arbeiter, die, ohne daß sie an die Stelle der Gewerkschaften trat, auf die eine oder andere Art die Macht der Leitung einschränkte. In den Insti­tutionen verkörperte sich eher etwas von der populistischen als von der so­zialistischen Inspiration der Bewegung, jedoch verschlimmerte sich die Un­ordnung in der Verwaltung, die neuen Organismen vermehrten sich, ohne daß die Machtverteilung klar definiert war. Es wäre lächerlich, das III. Reich durch sein ökonomisches Regime zu definieren, ob man es kapitalistisch nennen will oder nicht. Drei Jahre Keynesianismus bei Schacht, drei Jahre Kriegsvorbereitung, drei Jahre Krieg ohne totale Mobilmachung. Man kann darüber spekulieren, wie eine national-sozialistische Wirtschaft nach dem Sieg ausgesehen hätte. Die Ausbeutung der besiegten Länder und der min­derwertigen Völker wäre ein Hauptelement der neuen Ordnung gewesen.

Es wird noch über die Krise der deutschen Wirtschaft von 1938 oder 1939 diskutiert: muß man dem Krieg eine andere Ursache zuschreiben, als den politischen Willen Hitlers oder das Wesen der nationalsozialistischen Bewe­gung? Diese Art von Diskussionen interessieren mich wenig: Hitler hat nie­mals an ökonomische Zwänge geglaubt, mit Gleichgültigkeit oder mit Ironie wies er die Einwände von Schacht oder den Fachleuten zurück. Diese Dis­kussionen werden durch die Hartnäckigkeit der Marxisten genährt. Auch nachdem Hitler sich die totale Macht gesichert hat, wollen sie um jeden Preis ökonomische Ursachen am Ursprung wesentlicher Entscheidungen entdecken.15

Man findet immer, was man sucht; die Untermauerung der eigenen Ent­deckung ist eine andere Sache. Wenn man davon ausgeht, daß dem Reich Devisen fehlten, so hätten andere Länder, allen voran die Briten, ihm im Tausch für einen Aufschub oder einen Waffenstillstand an der außenpolitischen Konfliktlinie Erleichterungen verschafft. Selbst für die Marxisten, oder um genauer zu sein, die Leninisten ist es besser, eine Formel zu finden, die zugleich mit der Realität und der Theorie vereinbar ist: die Widersprüche des deutschen Kapitalismus hatten die führenden Kreise dazu gezwungen, die Staatsgewalt einem Abenteurer und Antreiber der Massen zu überlassen. Nachdem er sich zum Teil von strukturellen Zwängen befreit hatte, hat der plebiszitäre Cäsarismus das Land weniger nach einem im vorhinein ausge­reiften Plan, als durch eine Reihe von auf Ereignisse reagierenden Maßnah­men in den Krieg gestürzt.

Anders gesagt, das Nazi-Rätsel besteht nur durch die Art der Fragestel­lung weiter. Man muß das Problem nur in seine Elemente auflösen, und die Antworten werden das Abenteuer ebenso durchschaubar machen, wie bei vielen anderen Schicksalswendungen in der Geschichte: die Weltwirtschafts­krise, die Lähmung der parlamentarischen Mechanismen, die Verfolgung ei­ner deflationistischen Politik, Millionen von Arbeitslosen, die Organisation der Partei und ihre Propagandatechnik, der Streit zwischen Sozialisten und Kommunisten, die nationalistische Reaktion, die Illusionen gewisser konser­vativer Kreise etc...16 Die Wahlergebnisse der NSDAP erschienen im Klima von 1933 nicht rätselhaft; ebensowenig wie die Kabinettsbildung vom Januar 1933. Ich sage nicht, daß wir vom ersten Tage an vorhergesehen hätten, daß Hitler, nachdem er Kanzler geworden war, seine Verbündeten eliminieren und sich in den Besitz der totalen Macht bringen würde, aber es gibt im nachhinein keinen Anlaß, darüber erstaunt zu sein. Ich erinnere mich an ein Gespräch in der Berliner Botschaft im Februar 1933; ein bekannter Journalist erinnerte an den Machtantritt Mussolinis und erklärte in einem schulmeister­lichen Ton, daß Mussolini niemals solche Beschränkungen hingenommen hätte, wie sie die Entscheidungsfreiheit Hitlers erfuhr.17 Einige Wochen spä­ter hatten sich diese Beschränkungen in Luft aufgelöst. Achtzehn Monate später wurde es Hitler durch Hindenburgs Tod ermöglicht, die beiden Ämter des Kanzlers und des Präsidenten in seiner Person zu vereinen und den Eid zu erlangen, der vor 1918 das Offiziercorps an den Kaiser gebunden hatte.

Wo ist das Verhalten des Staates zwischen 1933 und 1945 rätselhaft? Hit­ler, der in diesem Punkt dem weitaus größten Teil der führenden Klasse Aus­druck gab, wollte dem Reich seine Stellung in Europa und in der Welt wie­dergeben. Das unmittelbar Wichtige war die Aufrüstung. Was den traditio­nellen „Nationalisten" „rätselhaft" vorkam, das war der Umstand, daß es Hitler in einem Zeitraum von drei Jahren gelang, die beiden wichtigsten Klauseln des Versailler Vertrages aus der Welt zu schaffen - allgemeine Wehrpflicht, Besetzung des Rheinlands -, ohne irgendeine Reaktion seitens Großbritanniens oder Frankreichs zu provozieren.

Die meisten Historiker zweifeln kaum daran, daß Hitler dazu entschlossen war, die Größe des III. Reiches auf die Macht der Waffen und die Auswei
tung des Lebensraums zu gründen. Die berühmten Erklärungen von 1937 gegenüber den militärischen Führern offenbaren die Maßlosigkeit von Hitlers Bestrebungen.18 Diese Bestrebungen waren wahrscheinlich nicht im Detail festgelegt; die Ereignisse gehorchten nicht dem vorgezeichneten Szenario. Die Taktik bzw. die Improvisation setzte sich gegenüber der Strategie durch. Die militärischen Führer waren der Ansicht, daß das Reich 1938 oder 1939 noch nicht für einen großen Krieg vorbereitet war. Nachdem der Krieg ent­fesselt war, folgte ein Sieg dem anderen, bis vor die Tore Moskaus. Seit dem Winter 1941 begann die Rückzugsbewegung; sie kam vier Jahre später im Bunker von Berlin zum Stillstand, wo Hitler Selbstmord beging.


Die jeweiligen Extremmanifestationen des Stalinismus und des Nazismus, die Große Säuberung und die Ausrottung der Juden, haben auf den ersten Blick nichts miteinander gemein: auf der einen Seite die industrielle Ermor­dung von Millionen wehrloser Menschen, auf der anderen die Einkerkerung von Millionen Menschen, die Ausrottung von Millionen Sowjetbürgern, von denen die einen dem Regime günstig, die anderen ihm feindlich gesonnen waren, von denen die einen unter den Privilegierten, die anderen unter den Bauern und Arbeitern ausgesucht worden waren. Vielleicht ist der Ausdruck „nichts miteinander gemein haben" übertrieben: in beiden Fällen handelten die Behörden in Abhängigkeit von einer Ideologie, einer ihrerseits auf eine Metaphysik gegründeten Vorstellung von der gesamten geschichtlichen Welt.

Für die eine sowohl wie die andere der beiden ungeheuerlichen Episoden unserer Zeit liegt die Schwierigkeit der Erklärung in einer einzigen Ursache, die man erkenntnistheoretisch oder philosophisch nennen könnte. Bis zu wel­chem Punkt können wir ein Verhalten verständlich (intelligible) machen, das wir für irrational halten?

Betrachten wir die letzten Jahre des III. Reiches. Das Nahen der Niederla­ge, die verspätete und schlecht organisierte totale Mobilmachung, das Zu­nehmen des Widerstands, die Verschwörungen, der Aufstieg der SS schufen eine Art von Chaos; der Terrorismus scheint mir sowohl in Bezug auf die Umstände, als auch in Bezug auf die Männer an der Spitze - Himmler, Goebbels - verständlich (intelligible). Selbst auf die Gefahr hin, einen Skan­dal zu verursachen, würde ich bezüglich des Genozid sagen, daß die anschei­nende Irrationalität aus einer irrigen Perspektive herrührt. Hitler hatte mehr­fach erklärt, und insbesondere am ersten Tage der Kampfhandlungen, daß die Juden den Krieg nicht überleben würden, den sie Hitler zufolge ausgelöst hatten. Wir haben ihm nicht aufs Wort geglaubt, wir wollten ihm nicht glau­ben, aber he meant it, wie man im Englischen sagt. Wenn man bereit ist zu­zugeben, daß die Ausrottung der Juden, des jüdischen Gifts, des zersetzenden Blutes für Hitler Priorität hatte, dann wird die industrielle Organisation des Todes, der Genozid, als Mittel zum Ziel rational. Die instrumentelle Ratio-nalität ist ihrem Wesen nach amoralisch bzw. moralisch neutral. Nachdem das Ziel des Genozids gesetzt war, mußten aus der Logistik der Armeen die für diese Unternehmung notwendigen Materialien, Menschen und vor allem Transportmittel abgezweigt werden. Sicher, im Falle seines Sieges hätte Hit­ler das Unternehmen in aller Gelassenheit zuende führen können. Nachdem er sich aber des Sieges nicht mehr sicher war, wollte er seine eugenische Aufgabe vollenden, was auch immer der Ausgang des Kampfes sein würde.

Es bleibt noch eine andere Frage: kann man das Ziel als rational bezeich­nen? In dem Maße, wie das Rationale nicht von der Vernunft zu trennen und diese den Leidenschaften entgegengesetzt ist, schließt ein derartiges Ziel die Vernunft aus. Allein eine entfesselte Leidenschaft oder unbewußte Ängste diktieren eine solche Entscheidung. Das Problem verlagert sich: bis zu wel­chem Punkt kann man diese Entscheidung verständlich machen? Auf dem Wege einer marxistischen Analyse sicher nicht; diese Art von Analyse trägt den Plünderungen und Pogromen Rechnung, denen die Juden in der Vergangenheit zum Opfer gefallen sind; angesichts der Vernichtung versagt diese Analyse. Welche unpersönlichen Kräfte, welche sozialen Funktionen könnte man anführen? Ich sehe nur eine - entwaffnende - Schlußfolgerung: Ursache für den Genozid war der zur Besessenheit gewordene Haß einer kleinen Gruppe von Leuten, die wegen einer nationalen und sozialen Krise an die Macht gekommen war. Der Auslöser einer Explosion hat nicht unbedingt die gleiche Größenordnung wie die Explosion selbst.

Wie war die Ausführung dieses Unternehmens möglich? Es gibt darauf nur eine Antwort: der bürokratische Automatismus. Die meisten Männer der Einsatzkommandos (Deutsch im Original, J.S.) waren von den Massakern angewidert. Die Gaskammern erforderten nur wenig Personal. Das übrige ist wohlbekannt: das Halbwissen der Bevölkerung, die nicht hinschaute, das Schweigen des Papstes, die Weigerung Roosevelts und Churchills, darüber zu sprechen. Das, was sich seitdem in der Welt ereignet hat, hilft uns zumin­dest zu verstehen. Heute wissen wir, daß all dies Verhalten nur menschlich, allzumenschlich ist.

Was den sowjetischen Totalitarismus angeht, so werde ich mich auf einige Bemerkungen beschränken (ich hoffe, in einem späteren Artikel darauf zu­rückzukommen25). Mit Stalin sind auch die Rituale der Selbstbeschuldigun­gen und die große Säuberung verschwunden. Der Gulag bestand schon vor Stalins Herrschaft und hat ihn auch überdauert. Der Gulag als solcher scheint mit der kommunistischen Partei untrennbar verbunden zu sein, die zum Auf­bau einer neuen Gesellschaft entschlossen ist, in der alle Individuen voll und ganz integriert sein sollen. Während der Aufbaujahre stießen sich die Kom­munisten an den ehemals Unverbesserlichen, an den enttäuschten Idealisten, den Gläubigen der Jenseits-Religionen und den unzähligen Übertretern der sozialistischen Gesetzlichkeit. Nord-Koreaner, Chinesen und Vietnamesen haben alle jeweils auf ihre Weise den sowjetischen Gulag nachgeahmt, nicht aber die Länder Osteuropas, selbst nicht während der Jahre des stalinistischen Terrors.

Die Große Säuberung konfrontierte uns mit der Frage: war es notwendig, für eine Operation, die die Verwaltung und die Armee in Unordnung stürzte, eine zweckrationale Erklärung zu finden? Welche Verantwortung fiel dabei Stalin selbst zu? Noch heute zögern wir zwischen mehreren Antworten. Die Geständnisse der Angeklagten und auch die Große Säuberung konfrontierten uns mit einer anderen bedeutenden Frage: was glaubten die Untersuchungs­richter, die Parteimitglieder und die einfachen Bürger? Was wurde mit der Offenbarung von so vielen Verrätern und Verschwörern in den Staatsorganen gewonnen?

In der Gegenwart hat sich das Regime „normalisiert". Die Dissidenten sind als solche anerkannt. Wenn sie dem Westen unbekannt bleiben, erleiden

25    Vgl. dazu Raymond Aron (posthum): Les dernieres annees du siecle; Paris: Julliard 1984 (deutsch: Die letzten Jahre des Jahrhunderts; Stuttgart: DVA 1986); vor allem das V. Kapitel: La nature du regime so-vietique.


sie entweder den Gulag oder eine Behandlung in einer psychiatrischen Kli­nik. Wenn sie dem Westen bekannt sind, dann haben sie die Chance ausge­wiesen oder gegen sowjetische Spione ausgetauscht zu werden. Der Sowje­tismus hat überdauert, jedoch nicht der Stalinismus, was an Solschenitsyn und Sinovjev zu sehen ist. Der erste hat es uns ermöglicht, uns gleichsam in das stalinistische Universum hineinzuversetzen. Durch den zweiten können wir das sowjetische Universum dreißig Jahre nach dem Tode Stalins verste­hen.26 Es ist nicht mehr so ungeheuerlich, wie zu Zeiten des Schnauzbärtigen, aber es flößt ebensoviel Schrecken ein, weil es vielleicht den homo sovieticus geschaffen hat, den zu schmieden die Ideologie sich gerühmt hat, der Mensch, der den Erfordernissen des Regimes angepaßt ist.

Die Geschichtsschreibung hat ihre Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft. Das Buch von David Schoenbaum erhellt den vom III. Reich hervorgerufe­nen sozialen Wandel, der den Erfolg der Demokratie in der Bundesrepublik erleichtert hat.27 Andere Historiker fahren fort und werden in Zukunft fort­fahren, die Schilderung bzw. Deutung der dreizehn Jahre des Nationalsozia­lismus zu nuancieren und zu bereichern, indem sie die Nazi-Ideologie in eine bestimmte Strömung des deutschen oder europäischen Denkens einordnen. Der Titel dieses Artikels soll andeuten, daß die „Nazi-Frage" kein Rätsel darstellt, das auf seinen Ödipus wartet. Die Fortschritte in der ökonomischen Analyse, die Anhäufung von quantitativen Daten, die Unterscheidung von Veränderungen hin zur Moderne und von reaktionären Strömungen werden nicht die heute vorliegenden Thesen ersetzen: eine weltweite Krise des Kapi­talismus, die in Deutschland besonders schwer war, hat das Funktionieren des parlamentarischen Systems gelähmt, die Radikalisierung der Massen be­günstigt und einen Mann an die Macht gebracht, in dem sich während einiger Jahre das deutsche Schicksal verkörperte. Zur Hälfte durch tätige Mithilfe der führenden Klassen an die Macht gekommen, hatte er den nationalen Auftrag erhalten, dem Reich den Platz zurückzugeben, der ihm in Versailles weggenommen worden war.

Ein Mensch nur, und soviel Tod und Zerstörung? Nein, sicher nicht. Jedes andere nationale Regime in Deutschland hätte in jedem Fall versucht, eine Revision des historischen Urteils von 1918 zu erreichen. Der Versuch hätte einem anderen Weg folgen können. Aber von 1938 bis 1945 wird die Ge­schichte des III. Reiches weder durch die Krise des Monopolkapitalismus, noch durch die Ängste der Kleinbürger, und auch nicht durch den deutschen Nationalismus definiert. Sie deckt sich mit dem Abenteuer Hitlers. Chaplins
Friseur oder ein Genie des Bösen? Die Debatte über diesen Mann ist nicht abgeschlossen, und sie wird niemals abgeschlossen sein. Ein jeder nimmt sein kümmerliches Bündel an Geheimnissen mit ins Grab.


[Die folgenden Abschnitte wurden für die Fassung in Encounter vom Juni 1980 verfasst, (JS)]

Ich hatte meine Bewertung der gegenwärtigen Forschungsansätze zu Hitler und zum Aufstieg und Fall des Nationalsozialismus geschrieben, bevor ich Sebastian Haffners Anmerkungen zu Hitler32 gelesen hatte. Diese Untersu­chung gibt mir die willkommene Gelegenheit zu einigen abschließenden Bemerkungen.

Im Unterschied zu den meisten angesehenen Historikern von heute ver­sucht Haffner nicht, die treibende Kraft des Dritten Reiches in Begriffen des Klassenkampfes, der Wirtschaftskrise, der Beunruhigung des Kleinbürger­tums, des autoritären Charakters oder des Faschismus zu erklären. Er sucht und findet sie in der Person Hitlers. Und er hat in dem Maße recht, soweit wir die Wahrheit überhaupt klären können, die er ans Licht bringt. Das, was

Deutschland, Europa und der übrigen Welt geschah, entzieht sich dem Ver­stehen, wenn wir das persönliche Kalkül des Führers und seine Verbindung von Genie und Verfolgungswahn außer acht lassen. Der Historiker Haffner sieht in ihm einen „bedeutenden Mann", einen „Heros" (und dies ohne mo­ralische Konnotation, denn er war auch schlicht und einfach ein Verbrecher) - weil er das Europa und die Welt formte, in dem bzw. in der wir heute le­ben. Zusätzlich zu dieser ersten Behauptung - Hitler war ein bedeutender Mann, weil er den Lauf der Geschichte änderte - erinnert Haffner an den Schöpfer der NSDAP, den Reichskanzler von 1933 bis 1938 und den Feld­herrn von 1939 bis 194l;33 und diese Erinnerung wird jene Menschen verlet­zen, die diese Zeit mitgemacht haben, und die in Hitler die Verkörperung des Bösen sahen.

In Haffners Portrait von der Person Hitlers sind drei Hauptaspekte ver­knüpft: der Privatmann (die Engstirnigkeit und Mittelmäßigkeit eines Klein­bürgers und Autodidakten, mit einer durch Zufallslektüre erworbenen Bil­dung); der Politiker (außergewöhnliche Begabung als Redner und Manipula­tor); der Staatsmann (letztendlich ein Zerstörer und Verbrecher). 1919, im Alter von dreißig Jahren, ging er in die Politik; im September 1930, nach wenig mehr als zehn Jahren, war er der Angelpunkt der deutschen Politik; 1940, nach weiteren zehn Jahren, war er Herr über Europa.

Haffner erklärt den atemberaubenden Erfolg mit den Fähigkeiten Hitlers, den günstigen Umständen und vor allem der Schwäche der von ihm besieg­ten Gegner. Seine Fähigkeiten lagen in seiner hypnotischen Macht über die Massen bei seinen öffentlichen Reden und in seiner Geschicklichkeit als Or­ganisator einer Massenpartei. Und dabei behielt er bei beiden seine eigene persönliche und absolute Kontrolle und hielt gleichzeitig deren Dynamik und Vorwärtsbewegung aufrecht. Aber, so fügt Haffner hinzu, die Weimarer Re­publik war trotz der anscheinenden Stabilität, die auf Schachts Währungs­politik und Gustav Stresemanns Außenpolitik zwischen 1924 und 1928 zu­rückging, in jedem Fall zum Untergang verurteilt. Sie wurde von der herr­schenden Klasse und von Deutschlands Konservativen abgelehnt. Es gab nur zwei Anwärter, die an ihre Stelle treten konnten - eine konservative Restau­ration (oder Revolution) und den Nationalsozialismus - und das stärkere Gewicht war auf Seiten des Nationalsozialismus, wegen seiner einzigartigen Fähigkeit zur Massenmobilisierung.

Frankreich war, ebenso wie das Regime von Weimar, schwach. Nach seiner Geste zur Aufrechterhaltung seiner prekären Vorherrschaft in Europa, der Ruhrbesetzung im Jahre 1923, mußte sich Frankreich mit der von Großbri­tannien verfolgten Politik der Zugeständnisse an Deutschland abfinden. Es zog sich fünf Jahre vor dem gesetzten Termin aus dem Rheinland zurück, es gab seine Reparationsforderungen auf und es gestand im Bereich der Rüstung das Prinzip der Gleichberechtigung zu. Hitler beschleunigte den Rhythmus,

33     Im Text irrtümlich: „l 933 bis 1941". 316

indem er 1935 die allgemeine Wehrpflicht ausrief und 1936 die entmilitari­sierte Zone besetzte. Frankreich beugte sich dem Unvermeidlichen und Lon­dons Neigung zur Untätigkeit. Hitlers psychologisches Gespür behielt die Oberhand über die Befürchtungen seiner zivilen und militärischen Berater.

Im wirtschaftlichen Bereich setzte er sein Vertrauen in Hjalmar Schacht, der die Arbeitslosigkeit innerhalb von drei Jahren beseitigte und sechs Mil­lionen Arbeitslose wieder in Lohn und Brot brachte. Die Aufrüstung trug zur Vollbeschäftigung bei, aber sie war nicht der Hauptgrund (auch hier wieder hat Haffner Recht). Ohne es zu wissen, nahm Schacht eine Keynes'sche Vor­stellung auf: eine Volkswirtschaft, die von der Außenwelt durch ein System von unterschiedlichen Währungskursen getrennt ist. Dieser „Keynesianis-mus" wurde durch eine autoritäre Lohn- und Preiskontrolle gefestigt. Hitler ließ Schacht, dessen Politik mit seinen eigenen persönlichen Präferenzen übereinstimmte, vollkommen freie Bahn.

Man muß ihm auch seine Nervenstärke gutschreiben, die ihn auf seine Panzerdivisionen setzen und ihn unkonventionelle Generäle gegen die tradi­tionalistische Mehrheit unterstützen ließ. Es war Hitler, der den neuen Man-stein-Plan (der Ardennen-Durchstoß) gegen die alte Schlieffen-Strategie durchsetzte. Er besaß ein genuines militärisches Talent. Bis Herbst 1941 schien Hitler ein großer Feldherr zu sein, obwohl ihm inzwischen Generäle und Historiker für diesen Zeitraum drei möglicherweise entscheidende Fehler anlasten: das Anhalten der Panzer von Rundstedts vor Dünkirchen, womit er der britischen Armee Luft verschaffte; die Ablehnung des Versuchs einer di­rekten Invasion Großbritanniens; und die Verschiebung des entscheidenden Angriffs auf Moskau.

Ich werde nicht auf die verschiedenen Kontroversen eingehen, von denen ich glaube, daß sie für Haffners Darstellung nicht relevant sind. Haffner widmet sich ganz dem Gegensatz zwischen den verschiedenen Phasen - zuerst die „Erfolge und Siege", dann die Niederlagen, die Verbrechen und möglicher­weise der „Verrat". 1938, nachdem er Österreich und das Sudetenland Groß­deutschland einverleibt hatte, hatte Hitler all jene Deutschen auf seine Seite gezogen - die Hälfte der Wählerschaft - die ihm früher in freien Wahlen ihre Stimmen verweigert hatten. Wenn er zu Beginn des Jahres 1939 gestorben wäre, wäre er nicht als einer der bedeutendsten Männer in der deutschen Ge­schichte angesehen worden (ohne Anführungszeichen)? Haffner antwortet auf diese Frage von Joachim Fest34 mit zwei eigenen scharfsinnigen Bemer­kungen. Hitler hatte kein Regime bzw. keine Verfassung geschaffen, die an die Stelle der von ihm zerstörten getreten wären. Verließ er die Bühne, würde er ein Vakuum hinterlassen; blieb er, so würden seine Siege als Sprungbrett für weitere Abenteuer dienen. Er wollte nicht die „Vorherrschaft" in Europa

34    Joachim C. Fest: Hitler. Eine Biographie; Frankfurt/ Berlin/ Wien 1973. Vgl. Haffner (Ausgabe Frankfurt 1981), p. 43f.

- Franzosen und Engländer hatten sie ihm bereits eingeräumt - was er wollte, war ein Krieg zur Schaffung eines Weltreiches.

Aber dieser Ehrgeiz war mit einem anderen Ziel gekoppelt: der „Ausrottung der Juden", die er für ebenso wichtig hielt, wie das Weltreich. Er war davon überzeugt, daß nur er allein dazu in der Lage war, einen so großen Krieg um solch historische Ziele führen. Deshalb auch seine eigene Bemerkung: „besser der Krieg kommt, wenn ich erst fünfzig Jahre alt bin, in der Fülle meiner Kraft..." Die für Hitler angenommene Psychologie führt zu folgenden Themen: Fehlurteil, Irrtümer, Verbrechen und Verrat.

Fehlurteil: Hitler war nicht einfach ein machthungriger Opportunist. Er glaubte an seine eigene Weltanschauung, in der eine aus Gemeinplätzen be­stehende Theorie - daß die Geschichte aus einem Kampf zwischen Nationen (oder Rassen) um Lebensraum (Deutsch im Original, J.S.) besteht - mit einer falschen Idee, dem Juden als dem allgegenwärtigen Feind, kombiniert wurde. Er tat sein Möglichstes, komme was da wolle, die beiden Motive vom Kampf zwischen Nationen mit dem Kampf aller Nationen gegen die Juden zu ver­einbaren. Seine antisemitische Besessenheit kam ihn sogar in seiner Auf­stiegsphase teuer zu stehen: sie verleitete ihn zu dem Verbrechen der Endlö­sung (Deutsch im Original, J.S.).

Irrtümer: 1940, nach seinen militärischen Erfolgen, hätte er Frankreich einen großzügigen Frieden anbieten, eine „neue Ordnung" schaffen und gleichzei­tig England davon abschrecken können, einen sowohl hoffnungs- als auch bedeutungslosen Kampf fortzusetzen, und er hätte ein Europa errichten kön­nen, das einer deutschen Hegemonie zugestimmt hätte. Hitler hat daran nie­mals einen Gedanken verschwendet. Die Zertrümmerung Frankreichs war Teil seines Programms; sie sollte der deutschen Nation den Weg für weitere Eroberungen in einer anderen Richtung ebnen. Andererseits war für England in seinem ursprünglichen Programm vorgesehen, daß es eine Position der wohlwollenden Neutralität gegenüber dem Feldzug im Osten einnehmen sollte. Haffner zögert nicht, den Angriff vom Juni 1941 im Rahmen von Hit­lers Hauptstrategie zu „rationalisieren" (hierin folge ich ihm nur unter gewis­sen Vorbehalten). Er sieht sich nicht in der Lage, irgendein vernünftiges Mo­tiv für die Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten nach Pearl Harbor auf­zufinden. Wie hätte Roosevelt ohne diese gänzlich unverständliche Aktion auf die japanische Aggression mit einer Kriegserklärung an Deutschland antworten können? Wie hätte er dem Kriegsschauplatz im Westen Priorität geben können, wo doch das amerikanische Volk sich gerade gegen Japan bewaffnet hatte (das dadurch schuldig geworden war, daß es seinen Überra­schungsangriff gegen die amerikanische Flotte einige Stunden vor der Über­reichung der diplomatischen Note in Washington geflogen hatte)?

Verbrechen: Hitlers schriftlicher Befehl vom 1. September 1939, die Kran­ken zu töten und im Laufe der folgenden zwei Jahre einhundertausend
„nutzlose Mäuler" zu beseitigen; die Eliminierung der Zigeuner (die Zahl der Opfer wird auf eine halbe Million geschätzt); die geplante Ausrottung der Schichten mit der höchsten Bildung in Polen; die unmenschliche Behandlung russischer Kriegsgefangener und der Massenmord an führenden russischen Zivilpersonen; und schließlich die „Endlösung", die millionenfache Ausrot­tung von Juden am Fließband. Haffner macht sich eine bereits früher formu­lierte Deutung zu eigen, insbesondere, daß Hitler entschlossen war, wenig­stens eines seiner beiden Kriegsziele zu erreichen, und daß er sich zur „Endlösung" nach dem Rückschlag vor Moskau entschloß, als er aufhörte, an die Möglichkeit eines Sieges zu glauben.

Verrat: Hitler wurde durch den Schock vom November 1918 in die Politik getrieben. Er hatte sich selbst geschworen, daß „der November 1918 sich niemals wiederholen würde." In der Tat fiel dieser Tag der Schande mit Lu-dendorffs Entschluß zusammen, die deutsche Armee vor der unabwendbaren Niederlage zu schützen, und die Schuld für das Desaster den Nachkriegs-Li-quidatoren zuzuschieben. Die Kampfhandlungen einzustellen, wenn über den militärischen Ausgang kein Zweifel mehr besteht, bedeutet die Begrenzung von Verlusten für jedermann und die Bewahrung von einigen Optionen für die Zukunft. Der geschlagene und hoffnungslose Hitler jedoch wollte das deutsche Volk mit in seinen Tod nehmen. Während jeder Deutsche lieber von den Westalliierten besetzt werden wollte, als von den Bolschewiken, war es der Westen, der den Hauptangriff in Form der im Winter 1944-45 begonne­nen Ardennenoffensive trug - eine Offensive, die auch die an der Ostfront verfügbaren Kräfte verminderte. Er gab sogar den zivilen und militärischen Stellen den Befehl, „alles zu zerstören", was den Invasoren von Nutzen sein könnte. Mit anderen Worten, er wollte Deutschland selbst vernichten - die Nation hatte künftig ihr Lebensrecht verwirkt, da es ihr an Stärke für Erobe­rungen gefehlt hatte.

Zwei Haupteinwände sind gegen diese Studie (die ich sehr bewundere) erho­ben worden35- und in Frankreich werden sie sogar noch lauter ertönen. Einige Kapitel geben das Bild eines „bedeutenden Mannes", in Anführungszeichen oder nicht, und es gibt eine große Zahl von Lesern, die ihn allein als das Monster sehen wollen, das er zweifellos auch war. Geht der Autor nicht eher zu weit, wenn er die Verantwortlichkeit des deutschen Volkes auf die Schul­tern eines einzigen Mannes lädt? Haffner vermittelt gelegentlich diesen Ein­druck. Aber das ist nicht sein tatsächlicher Gedankengang, so wie ich ihn le­se. Er diskutiert nicht über die „Verantwortung des deutschen Volkes", was wieder ein anderes Thema ist. Er glaubt vielmehr, daß Hitler niemals ein Ausdruck oder ein großes Beispiel des deutschen Volkes war. Natürlich hatte sich Hitler einige der alten Ideen, Mythen und Träume Deutschlands zueigen gemacht. Aber dieser berufslose Österreicher, ohne Familienanhang, ohne

35     *Siehe die Kritik Golo Manns: The Vulture's Sense of Death; Encounter, Februar 1979.

 

Freunde oder Kinder stand außerhalb des gewöhnlichen Bereichs des Menschlichen. Um diesen glaubens- und gesetzlosen Mann zum Führer des Reiches (Deutsch im Original, J.S.) zu machen, brauchte es die Auflösung des Wilhelminischen Reiches, die Schwäche einer Republik ohne Republika­ner, Millionen von Arbeitslosen und eine Nation, die gegen die Niederlage und den Vertrag von Versailles aufbegehrte.

Historiker haben untersucht - und sie werden immer aufs neue damit be­ginnen - was in Deutschland vor 1933 und zwischen 1933 und 1945 ge­schah, jeweils um Hitler herum und unterhalb Hitlers. Hitler war der Haupt­ursprung von Politik und Strategie und er war der Mann, der für gewaltige und grauenhafte Verbrechen verantwortlich war. Historiker können nur die Möglichkeit eines Hitler verständlich machen. Aber erst durch das Verstehen Hitlers selbst kann es uns gelingen, etwa die abenteuerliche Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten und die unsägliche „Endlösung" zu verstehen. Noch immer müssen wir das Monstrum in Menschengestalt bis zur Schwelle seines eigenen Abgrunds verfolgen.


 

 
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