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Das Unsichtbare sichtbar machen –

der Maler Michael Engelhardt

[ein Essay von Joachim Stark aus dem Jahre 2009, hier nochmals veröffentlicht anlässlich der Ausstellungen von Michael Engelhardt in Lauf und Aschaffenburg im Jahre 2019, siehe auch: https://michael-engelhardt.eu/]

„Who killed the painting?“ Diese Frage, Titel einer Ausstellung in Nürnberg im Jahre 2008, beleuchtete schlaglichtartig noch einmal die Situation der Malerei seit den 1960er Jahren. Malerei, zumal die Gegenständlich-Figurative, galt spätestens seit jener Zeit als obsolet, weil sie der Forderung nach politischem Engagement der Kunst, ihrer Einmischung in den Alltag der Betrachter, und das Aufgreifen neuer Themen wie Feminismus, ethnischer und sexueller Identitäten, des Körpers als Schauplatz politischer und sozialer Macht, oder auch Fragen sozialer Ungleichheit nicht mehr gewachsen schien. Objekt, Installation, Performance, Land Art, Foto-, Video- und Filmtechniken, Konzeptkunst schienen endgültig die Malerei als das führende Genre der Bildenden Kunst entthront zu haben.

Doch unbeeindruckt von den Wandlungen des Kunstbetriebs während der vergangenen 40 Jahre geht der Maler Michael Engelhardt seinen Weg. Engelhardt ist überzeugt von der Vitalität und der visuellen Energie der gegenständlichen, „realistischen“ Malerei, die sich auch auf das Narrative besinnt. Als einem der Meisterschüler des Wiener „phantastischen Realisten“ Rudolf Hausner mag man Engelhardt in die Stilrichtung „magischer Realismus“ einordnen.

Aber was heißt in der Kunst schon „magisch“ und was heißt schon „Realismus“? Der Begriff entstand jedenfalls in enger Beziehung zur Neuen Sachlichkeit und wurde Anfang der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts geprägt mit Bezug auf die Stillleben und Landschaften eines Georg Schrimpf und Franz Radziwill. Die klaren Formen, die harten Licht-Schatten-Kontraste und die forcierte Perspektive der pittura metafisica mögen hier ebenfalls Pate gestanden haben. Gewiss, Engelhardts Realismus kann den Betrachter magisch anziehen. Seine Gegenstände und Landschaften haben eine materielle und haptische Präsenz, die den Betrachter in Bann schlägt. Doch Naturnachahmung in Perfektion, Naturalismus, ist nicht Engelhardts Hauptziel. Ebenso wenig der soziale Realismus in der Tradition eines Gustave Courbet. Auf den zweiten und dritten Blick wird der Betrachter von Engelhardts Bildern in den dargestellten Dingen und Oberflächen Erscheinungen gewahr, die die Solidität der dargestellten Objekte als Illusion offenbaren. Die Objekte, Landschaften und Figuren scheinen ein Geheimnis zu bergen, das dem aufmerksamen Betrachter angedeutet wird. Engelhardts Credo könnte vielmehr in der Nachfolge Leonardo da Vincis herrühren: das Unsichtbare sichtbar zu machen als vornehmste Aufgabe der Malerei.

Wenn auch Engelhardts Arbeiten der jüngeren Vergangenheit hier im Vordergrund stehen sollen, so lohnt doch ein Rückblick auf seine Anfänge, die eine eigentümliche Konstanz in der Annäherung an die Welt und ihre Darstellung offenbart. Schon ein Gemälde aus dem Jahr 1971 zeigt diesen Willen, die Bildfläche in große Raumkörper zu gliedern und diese wiederum durch feinste Abstufungen zwischen Licht und Schatten, kalt und warm, rau und glatt, deckend und lasierend usw. zu charakterisieren. Durch diese malerischen Techniken gelingt es dem damals 18jährigen, das Mirakulöse in seine Bildwelten zu integrieren.

Inwieweit gleichsam von Ferne ein Einfluss des amerikanischen Fotorealismus vorliegt, der just 1970 in einer Ausstellung im Whitney Museum of American Art präsentiert wurde, mag dahingestellt sein. Jedenfalls fühlt sich Engelhardt nicht zur „realistischen“ Pop Art eines Warhol, Lichtenstein oder Wesselmann hingezogen, sondern zu einer Gegenständlichkeit, die einen Schein des Irrealen beinhaltet und sich zugleich politisch positioniert: „Die Mauer“ heißt ein frühes Landschaftsbild (Öl/Lw., 60 x 120 cm). Die rechte Bildhälfte wird dominiert von einer überdimensionalen, stark in den Hintergrund fluchtenden Mauer, die sich scharf gegen einen blauen Himmel mit einigen Wolken am niedrigen Horizont abhebt. Die linke Bildhälfte zeigt einen Strand mit braun-rötlichem Strauchwerk, auf dem Vögel und anderes Getier zu sehen sind. Die Mauer könnte ein Gefängnismauer sein, freilich auch die politische Mauer zwischen Ost und West, wie sie 1968 mit der Niederschlagung des Prager Frühlings erneut zementiert worden war. Den Widerstand gegen Abschottung und Zensur symbolisiert ein Plakat des Rockgitarristen Jimi Hendrix, das im Bildvordergrund an die Mauer geheftet ist. Den unkontrollierbaren Einbruch des Irrealen in diese scharf konturierte, in hartes Licht getauchte Szenerie symbolisiert die Wolke am rechten Bildrand, die sich bei genauerem Betrachten als Seitenansicht des Oberkörpers eines Elefanten entpuppt. Referenzen zur Politik finden sich später erneut in Engelhardts Werk, z. B. in „Deutsches Requiem“ (Öl/Lw., 1984), oder auch in Bildern, die auf die Umweltproblematik anspielen (z.B. „Land vor der Stadt“, 1983, „Versunkene Welt“, 1997) oder auch auf die die Globalisierung bzw. die Macht des Geldes („Apotheose“, 2001). Auch Anspielungen auf die Musik finden sich später immer wieder bei Engelhardt, der übrigens selber Bouzouki spielt, so in mehreren Stillleben, („Die Schublade“ 1984, „Hommage à Vermeer“, 1991/92; „Orpheus’ Leier II“, 1992, „Im Atelier“, 2000, „Die Zypresse im Kloster Hagios Athanasios auf Samothrake“, 2005), oder auch in der großformatigen mythologischen Landschaft „Die Bacchantinnen“, 1994-2000.

Seit rund einem Jahrzehnt konzentriert sich Engelhardt vermehrt auf Stillleben, Interieurs und Porträts, wobei er die Genres auch gerne miteinander verknüpft, mitunter Landschaften integriert, um so seine Vorliebe für die Darstellung unterschiedlicher Materialien und Oberflächen, anspruchsvoller Lichtstimmungen, vertrackter Perspektiven und mehrfach gebrochener Wirklichkeitsebenen auszuleben, z.B. „Im Atelier II“ (2003), das mit den Formen der Farbtiegel und Mischbecher spielt. Die Präsenz des Numinosen wird symbolisiert durch eine „weinende“ Maske.

Zu den kompliziertesten Atelierbildern zählt zweifellos das „Selbstporträt mit Puppe“ (2001/02): Auf den ersten Blick scheint das Bild zwei sich gegenüber stehende nackte Puppen männlichen Geschlechts zu präsentieren, eine in Rück- die andere in Frontalansicht, beide lediglich mit einem Harlekinkragen und einem Strohhut bekleidet. Beide stehen auf Tischen, die mit grünen Tuch und dunkelgrauem Karton bedeckt sind. Im Hintergrund sitzt der Maler an der Staffelei, und blickt in Richtung des Betrachters.

Doch der Betrachter ist nur vermeintlich in die Szenerie einbezogen. Der Maler blickt nicht auf ihn, sondern auf sich selbst, sein eigenes Spiegelbild. Und auch die zwei Putti sind nur einer: der mit dem Rücken zum Betrachter ist im selben Spiegel zu sehen wie der Maler. Das visuelle Verwirrspiel ist ein ironischer Kommentar zur Situation des Künstlers und seiner Wirklichkeit - der Arbeit an der Malerei -, und dem, was der Betrachter wahrzunehmen in der Lage ist. Das Gemälde verweist zugleich auf die gesellschaftliche Rolle des Künstlers zwischen Virtuosentum und Harlekinade. Im übrigen sind natürlich Spiegelsituationen seit dem Barock (z.B. Velazquez, Las Meniñas) ein gern genutztes Mittel, das Wesen der Malerei und die Verlässlichkeit der Wahrnehmung des Betrachters auf die Probe zu stellen.

Das Changieren zwischen faktizierender Sachlichkeit der Objektdarstellung und der verhaltenen Präsenz des Übersinnlichen wird erneut durchgespielt im „Traum des Apothekers“ (Öl/Lw. 2005). Bei dem quadratischen Format (120x120 cm) handelt es sich um ein Ganzfigurporträt des Erlanger Apothekers und Kunstmäzens Bernd Nürmberger. Dass wir es mit einem Gelehrtenporträt zu tun haben, machen Schriften und Apothekergerätschaften auf dem Tisch deutlich. Haar-und Barttracht, Brille und Kleidung zeigen den Porträtierten als Zeitgenossen des 21.Jahrhunderts. Doch die Sachlichkeit und Detailfülle wird gleichsam konterkariert durch die Figur eines Apotheker-Patrons, der im Hintergrund umsäumt von goldgelbem Licht in das Arbeitszimmer zu treten scheint. Das Pendant zu dieser Erscheinung ist der von einem Lichtschein hinterfangene Adler, der im Begriff ist, sich von der Spitze einer Apothekenwaage in die Lüfte zu schwingen. Dieser Greifvogel ist eine Anspielung auf Namen und Ladenschild der „Adler-Apotheke“.

Gefäße und Behältnisse verschiedenster Art sind ein immer wieder auftauchendes Motiv in Engelhardts Stillleben und Landschaften. Ihre Oberflächen lassen sich von hart bis weich und durchscheinend gestalten, ihre mal runden, mal elliptischen Öffnungen und Ausgüsse sind Gelegenheit zu perspektivischen Variationen, ihre mitunter vertikale Gestalt dient als Metapher für die menschliche Figur. Schließlich stehen sie für das Aufbewahren von Flüssigkeiten, wie lebenspendendem Wasser. Das Wasser übrigens ist oft präsent in Engelhardts Bildern, meist in gläsernen Trinkbechern, die das Licht bündeln, die durchsichtige Schatten werfen, oder die Gegenstände in der Durchsicht zu grotesken Formen verzeichnen, so in dem „Stillleben mit Widderschädel“ (Öl/Lw. 2008). Mit seiner türkischen Kupfer-Kanne, der Distel aus Griechenland, die zum Hintergrund hin sich zu entmaterialisieren scheint, den reifen Feigen, dem Tierschädel, wird hier vor allem der mediterrane Kulturraum evoziert. Der Betrachter ist laut Engelhardt frei in seinen Assoziationen über das Miteinander von Leben (das Glas Wasser), Vergänglichkeit (der Schädel), Wille zur Selbstbehauptung (die stachelige Distel). „Für mich muss zunächst das Formale, die Korrespondenz der Formen, das Kompositorische stimmig sein. Die Inhalte sind Sache des Betrachters.“

In diesem Stillleben und vielen seiner Landschaften finden auch Engelhardts ausgedehnte Reisen ihren Niederschlag. Sein Atelier im fränkischen Erlangen, der Heimatstadt des Künstlers, ist sozusagen der Schmelztiegel, wo die Eindrücke aus Nepal und Indien, aus Afrika, und vor allem dem Mittelmeerraum, zumal Griechenland, auf Engelhardts Leinwand ihre wechselnden Verbindungen eingehen.

Dies ist auch nachweisbar in der etwa 2002 begonnenen Serie von Gemälden, in denen Kannen und Krüge eine Hauptrolle spielen. Diese Ansammlung von Behältnissen erinnert unwillkürlich an die randvoll mit Blechkannen gefüllten Vitrinen des Pariser Installationskünstlers Arman, der Anfang der 1960er Jahre zu den Gründungsmitgliedern der Nouveau Réalistes gehörte. Doch die Inspiration bei Arman und Engelhardt könnte unterschiedlicher nicht sein. Während Arman die Wirklichkeit der für die Industrie- und Wegwerfgesellschaft typischen Gegenstände in die Kunst hinein holen wollte, sind die Kannen bei Engelhardt Metaphern für Individuen und für soziale, interkulturelle Beziehungen.

In der „Versammlung der Kannen“ (86x68 cm, Öl, Eitempera, Lw., 2008) treffen eine handgefertigte dunkle Blechkanne mit engem Hals und eine tönerne Amphore, beide aus der Türkei, auf eine schlanke ägyptische Vase, sowie auf Email-Kannen, wie sie industriell in Europa gefertigt wurden. Dominiert wird das Bild von einen halbtransparenten Kanne, die aus Plastik sein könnte, deren Material aber auch an Alabaster erinnert. In ihrem Innern wird eine rötlich schimmernde Schriftrolle sichtbar, die für die Menschenrechts-Charta steht. Eine Variation dieses Kannen-Stilllebens ist „Die Familie“ (92x86 cm, Öl, Eitempera, Lw., 2008).

Auch in diesen Kompositionen sind die formalen Aspekte, die durch die Malerei ermöglichten Veränderungen der Formen und Materialitäten für Engelhardt das Interessante. Zentral für die Spannung ist der Gegensatz zwischen geraden und geschwungenen Linien sowie das Wechselspiel zwischen lasierenden, kühlen und deckenden, lichten Tönen. Zugleich wird der Naturalismus der Volumina und der Oberflächen durch eine Metamorphose der Materialität kontrapunktiert. Für Engelhardt eine originäre Leistung der Malerei, ermöglicht durch die alten malerischen Techniken der Untermalung und der Lasuren:

So wird die mit magerer Halbkreide grundierte Leinwand in der ersten Schicht mit Ölfarbe deckend bis halbdeckend zugemalt. Danach wird eine Eitempera-Zwischenschicht aufgebracht. Anschließend wird eine bläuliche Harzöllasur wie ein Zwischenfirnis über das ganze Gemälde gelegt. Erst dann wird die Komposition fertig gemalt. Der Eindruck der Räumlichkeit der Objekte entsteht vor allem durch die Untermalung. Die Metamorphose der Materialität, z.B. der Plastik-Kanne, die sich in eine Alabaster-Kanne verwandelt, wird wiederum durch das Spiel zwischen lasierenden und deckenden Farbtönen bewirkt. So entsteht in der Malerei eine Wirklichkeit sui generis, die dem Betrachter zunächst bekannt und vertraut vorkommt, dann aber doch ungewohnt und beunruhigend erscheint.

Nun denn, wie steht es um den „Tod der Malerei“? Wenn man Engelhardts Arbeiten betrachtet, erscheint die eingangs zitierte provozierende Frage heute mehr denn je obsolet. Die realistische, gegenständlich-figurative Malerei war nie am Ende ihres Weges, auch wenn die Fürsprecher der Abstraktion und des expressiven Gestus dies gerne so wollten. Die Weiterentwicklung der klassischen Malerei erfolgte in den vergangenen Jahrzehnten vielmehr abseits der Hauptrouten der zeitgenössischen Kunst. Aber sie ist zweifellos integraler Bestandteil der andauernden Postmoderne mit ihrem Pluralismus der Stile, Praktiken und Positionen. Wie die Beispiele anderer zeitgenössischer figuaritiv-gegenständlich arbeitender Maler zeigen, die Engelhardt schätzt, z.B. Peter Doig, Neo Rauch, oder Engelhardts ehemalige Studienkollegen in Wien, Wolfgang Marx und Benedetto Fellin, scheint die Zeit reif für einen neuen Blick auf eine Welt mit ihren Brüchen und Geheimnissen, so wie sie uns auch Michael Engelhardt in seinen Bildern zeigt.


- Joachim Stark,  12. Dezember 2017 -

Neue Freiheit im VW Käfer und Tristesse der Konsumgesellschaft

Reflexionen zu Dieter Kraemers realistischer Malerei

Die Daseinsberechtigung der bildenden Kunst kann sich gerade in Zeiten intellektueller und politischer Irrungen und Wirrungen als hilfreicher Kompass in Erinnerung bringen. Von einer gewissen Orientierungslosigkeit und zunehmenden Beliebigkeit ist dabei der Kunstbegriff nicht ausgenommen , leistet er doch Aktionen und Ausstellungen Vorschub, die Verständnislosigkeit und Verärgerung hervorrufen. Unterdessen steuert das bundesrepublikanische Staatsschiff ohne zuverlässige Seekarten zwischen Klippen und Untiefen hindurch, die Große Koalition, Minderheitsregierung und Neuwahlen heißen. Und viele Matrosen und Passagiere stellt sich die Frage, ob wohl jemals wieder ein halbwegs sicherer Hafen in Reichweite kommt. Mancher gar kommt ins Grübeln und stellt sich grundsätzliche Fragen, wie: Was ist es wert, erinnert zu werden? Was ist für das hier und heute wichtig? Was ist der Mensch, wie soll er leben und was ist sein Ziel? Oder um es mit Paul Gauguins auf Tahiti entstandenen Gemälde zu umschreiben, das den Titel hat: „Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?“ Diese essentiellen Fragen kann Kunst in Erinnerung rufen. Und sie kann vielleicht sogar Trost spenden in einer Zeit, wo die weltlichen Gewalten den Einzelnen im Stich zu lassen scheinen. Kunst kann uns helfen, eine kleine Auszeit zu nehmen vom dubiosen politischen und medialen Schauspiel und uns auf das Wesentliche der menschlichen Existenz zu besinnen.

Einlassen auf das Sein der Dinge

Die Gemälde Dieter Kraemers ( http://www.dieterkraemer.net/ )   (Jahrgang 1937) - das LandesMuseum im Landschaftsverband Rheinland in Bonn hat ihm aus Anlass seines 80. Geburtstages eine Retrospektive ausgerichtet (http://www.landesmuseum-bonn.lvr.de/de/ausstellungen/dieter_kraemer/standardseite_5.html) - konfrontieren den Betrachter mit dem wesentlichen, leiten ihn an, sich auf das So-Sein der Dinge einzulassen. Sie zeigt uns eher vermittelt und bisweilen ironisch, was zählt in diesem Leben, vor allem in den Stillleben seit den 1990er Jahren.  Davor, seit den 1950er Jahren, ist sie modern, sie ist ihre Zeit, übersetzt in Bilder. Die Menschen, die Objekte, die Architektur- und Stadtansichten verweisen auf die Epoche des Wirtschaftswunders der 1960er Jahre, aber auch die Kehrseiten von Fortschritt, Wohlstand und aufstrebender Freizeitgesellschaft bis in die 1980er und 1990er Jahre hinein. Mit der verstärkten Hinwendung zum Stillleben scheint jedoch bei Kraemer auch ein Hang zum Überzeitlichen, zum Grundsätzlichen sich Bahn zu brechen.

Und seine Malerei ist gegenständlich, figurativ, ja geradezu realistisch, vor allem in seinen Stillleben. Und dieser Zug zur Realität, zur Sachlichkeit, zu den Menschen und Dingen wie sie sind, dieses sich Stellen der sozialen, industriellen und Konsumgesellschaftlichen Wirklichkeit zeichnet ihn aus, hebt ihn heraus aus dem kunstbetrieblichen Mainstream, der seit den 1950er Jahren in Deutschland gekennzeichnet war von Abstraktion, abstraktem Expressionismus, Informel, Konzept- und Aktionskunst, Installationen und Performances und ja, natürlich auch der Pop Art, von der sich in den 1960er und 1970ern durchaus Anklänge in Kraemers  Schaffen finden.

Modern, aber auf den Schultern der Tradition

Aber so modern der Kunstpreisträger der Villa Massimo (Rom) und der Villa Romana (Florenz) in seinen Sujets und in seiner Darstellungsweise ist: er wendet sich nicht ab von den Traditionen der westlichen Malerei, er sagt sich nicht los von den Kompositionsprinzipien und Techniken, die seit der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert hinein konstituierend  waren für die bildende Kunst in Europa. Das kann man nicht genug würdigen, denn Maler und Malerinnen, die sich in dieser Tradition sehen, haben es heute  schwer, zumal im deutschen Kunstbetrieb, der das Avantgardistische, Kritische, Barrikadenstürmerische allemal mehr goutiert, als die malerische Auseinandersetzung mit dem Gegenstand. Die gegenständlich und realistisch arbeitenden Künstler werden mitunter schnell dem Kunsthandwerk zugerechnet.

Bei Kraemer findet sich keine Heroisierung, keine Idealisierung, er zeigt die die Menschen und Dinge so, wie sie sind, nicht wie sie sein sollten: etwas unbeholfen und sperrig, mit ihren Körperrundungen von Ferne an Fernando Botero erinnernd, füllen Kraemers Protagonisten das Bildfeld, den Betrachter etwas unsicher bis schüchtern und abwartend bis skeptisch entgegenblickend. Oder wollen sie den Blick des Betrachters abwehren, wollen sie nichts preisgeben von ihrem Erleben der Welt?


Schmitzens Balkon, 1966

Viele Gemälde Kraemers verweisen auf das kunstgeschichtliche Erbe, mit dem sich der Maler zweifellos beschäftigt hat, zumal auch während des Studiums in Berlin, wo er auch Kunstgeschichtsvorlesungen hörte. So spielen Bildtitel zum Beispiel auf Dürer an (Melancholia) oder auf Chardin, den Pariser Stillleben- und Genremaler des 18. Jahrhunderts (Hommage an Chardin, 1976).



Hommage à Chardin, 1976

Kraemer hat nach dem Kunst-Studium in Hamburg und Berlin auch in Frankreich und Italien gearbeitet, bis er dann Anfang der 1970er Jahre in Köln zunächst als Professor für Malerei an der Fachhochschule sesshaft wurde. Vieles, was er in den 50er bis 1970er Jahren gemalt hat, erinnert an Maler wie Matisse, die Kubisten, Fernand Leger, auch an Max Beckstein.

Thematisch fällt aber doch auch seine Nähe zu den Impressionisten auf, Alltagsszenen, Arbeitswelt aber auch die kleinen, bescheidenen Vergnügungen der kleinen Leute in der Freizeit beschäftigen Kraemer viel. Bei seinen Berliner Balkonbildern fallen einem zum Glück nicht nur diese aktuellen Balkonszenen der Jamaika-Sondierungen in der Parlamentarischen Gesellschaft ein, sondern vor allem auch ein berühmtes Gemälde von Manet, das Freundinnen und Freunde des Malers zeigt (u.a. Berthe Morisot) die hinter einem grünen Geländer sitzend und stehend eine außerhalb des Bildfeldes befindliche Szenerie betrachten. Kraemer zeigt indes nicht wie Manet, das wohlsituierte Pariser Bürgertum, wie es sich in eleganter Garderobe präsentiert, sondern es ist eine kleinbürgerliche Familie die umgeben von Topfpflanzen und Vogelkäfig ihre Nasen in die  frische Luft recken (Schmitzens Balkon, 1966).

In der thematischen Nachfolge der Impressionisten lassen sich auch die Bilder aus Sport, Freizeit und Arbeitswelt sehen. Dazu gehören auch die VW-Käfer-Motive, mit denen Kraemer in den 1960er und 1970er Jahren bekannt wurde (etwa Camping, 1968; Wochenende 1970; Quai de la Tournelle, 1972). In den 1970er Jahren hatte Kraemer zudem die Gelegenheit, die Welt der modernen Autoproduktion in Wolfsburg selbst erfahren zu können. Darstellungen von Arbeiterinnen und Maschinisten vor gewaltigen Stanzen und Pressen waren u.a. der künstlerische Output. Geradezu ikonisch bleibt aber wohl immer noch „Frau vor VW“ (1972). 

 


Frau vor VW, 1972

Welt der neuen Freizeitgesellschaft

Es zeigt die Welt der neuen Freizeitgesellschaft, die dank der zum Beispiel durch den VW Käfer erschwinglich gewordenen individuellen Mobilität sich neue Erlebnisräume eröffnet: Eine Frau sitzt im zweiteiligen Badeanzug vor ihrem Käfer, sehr wahrscheinlich ein älterer Gebrauchtwagen, wie die Rostflecken am Kotflügel und am Schweller anzeigen. Zigarettenkippen, abgebrannte Streichhölzer und zerknüllte Zigarettenschachtel teilen sich den Vordergrund mit allerhand anderen achtlos entsorgten Holz-und Metallteilen, so wie man es damals am Rheinufer oder auch am Baggersee finden konnte. Kleine Freiheiten, kleine Freizeitvergnügen, die aber schon damals, so scheint Kraemer anzudeuten, erkauft wurden mit einer achtlos verschmutzten Umwelt. Das gleiche Thema wird noch einmal variiert in „Melancholia“ (1970), das sich Dürers gleichnamigen Meisterstich aus dem Jahre 1514 als Anregung nimmt. Die Allegorie der Melancholie sitzt bei Kraemer indes vor einem Hauszelt und schaut hinweg über eine Ansammlung von Zivilisationsmüll in Richtung Flussufer. Hinter dem Zelt ist wieder ein VW Käfer zu sehen. 

 


Melancholia,1970

 

Nicht nur thematisch knüpft Kraemer an die Tradition an, sondern auch maltechnisch: So verwendet er immer wieder Eitempera als Malmittel und Pigmentträger, zumindest bis in die 1970er Jahre. Große Altar- aber auch kleine Andachtsbilder wurden im ausgehenden Mittelalter und in der Renaissance mit Eitempera auf Holz gemalt, bis dann im 15.Jahrhunderts die Ölmalerei aufkam und als Bildträger sich zunehmend Leinwand durchsetzte. Eitempera-Farben müssen in der Regel vom Maler selbst angefertigt und wegen der kurzen Haltbarkeit schnell verarbeitet werden. Der Farbauftrag erfolgt dabei relativ langsam und erlaubt nur unvollkommen das Herstellen von Farbübergängen, so dass die Konturen des Dargestellten schärfer hervortreten. Die Anforderungen an das technische Können des Malers sind jedenfalls anspruchsvoller, als bei der Öl- oder Acrylmalerei, wo das Übermalen und das Vertreiben von Farbnuancen den Malvorgang vereinfachen.

Symbole der Vergänglichkeit und des Verfalls

Die Möglichkeiten, die die Ölmalerei bei der Realitätsnahen Darstellung bietet, schöpft Kraemer in seinen Stillleben voll aus. Ihnen wendet sich der Maler, der auch Professor für Malerei und Zeichnung in Köln war, seit den 1990er Jahren verstärkt zu. Von der Desillusionierung durch die ungezügelte technischen Fortschritt und Kapitalverwertung und der damit einhergehenden Umweltzerstörung scheint der Weg zu führen zu Konzentration auf jene einfachen Dinge des Lebens und der Kunst, die der Mensch zum Dasein und der Maler zu seiner Arbeit braucht. Kraemer zeigt uns also nicht üppige Blumen- und Bankett-Stillleben, wie sie die Niederländer im 17. Jahrhundert für ihre solvente bürgerliche Kundschaft schufen. Bei Kraemer sehen wir einen Brotlaib, einen Hering, Früchte, ein Stück Käse, eine Flasche Wein, eine alte Kasserolle , oder auch eine Palette, Pinsel, Bleistifte, Skizzenpapier. Gelegentlich zeigt uns Kraemer mit den Fliegen, die etwa um einen Käselaib oder um auf einem Tisch ausgebreitete Kirschen herumkrabbeln, auch die Symbole der Vergänglichkeit und des Verfalls, die auch die Niederländer des Goldenen Zeitalters als Memento Mori beifügten.


Kirschenstillleben, 1981



Blaue Kasserolle, 2016

Brot und Wein, letzterer meist noch in der Bordeaux-Flasche, sind immer wieder verwendete Motive bei Kraemer. Der Betrachter ist frei, sie als Verweise auf die Eucharistie zu lesen. Die Symbolik des Christentums ist auch gegenwärtig in Darstellungen von Brot und Fisch, die Kraemer im Jahre 2014 anlässlich des Centenars des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges gemalt hat: „Hering und Kommissbrot“ zeigt uns ein offenbar stark benutztes Küchenbrett, auf dem eine Scheibe dunkles Kommissbrot, ein eingelegter Hering und eine Gabel drapiert sind. Die Gegenstände liegen auf einem Tisch, möglicherweise auch auf einer steinernen Bank. In der Renaissance verwies in Darstellungen der Madonna mit dem Kind die steinerne Brüstung auf das künftige Grab Christi. 

 


Hering und Kommissbrot, 2014

 

Es ist diese unprätenziöse, ja demütige Hinwendung zum zeitgenössischen Menschen, seiner Lebenswelt und seinen fundamentalen Bedürfnissen, die an Dieter Kraemers Malerei besonders berührt. In den einfachen, bescheidenen Dingen, die zugleich mit stupender handwerklicher Meisterschaft herausgearbeitet werden, zeigt er die Jahrhunderte zurückreichende Tradition, in der wir alle stehen, und zugleich das Transzendente, das in den Gegenständen wohnt. Seine Malerei  kann Trost und Vergewisserung sein in einer Zeit, der es gleichgültig zu sein scheint, was ihre Stärken und ihre Zukunft ausmacht, die vielmehr dabei ist, ihre Wurzeln veröden zu lassen und an der selbstbewussten und zielgerichteten Gestaltung von Gegenwart und Zukunft nur noch wenig Interesse zu haben scheint.

Kraemers Gemälde erinnern daran, dass es jenseits der politischen Abgründe noch einen Rückzugsbereich gibt, nämlich die Kontemplation dessen, was für den Menschen wesentlich ist. Gewiss, die Politik ist das Schicksal, hat Napoleon zu Goethe gesagt. Aber es gibt Zeiten, in denen ein solcher Rückzug in die Kontemplation, zum Beispiel vor einem  Stillleben von Kraemer, zumindest zeitweilig doch eine legitime Entscheidung sein kann.

Bescheidenheit und Demut, aber auch Unbestechlichkeit beim Beschreiben der Wirklichkeit und beim Benennen der Dinge, wappnen gegen die Verführungs- und Überredungskünste jener,  die uns weismachen wollen, dass schon alles wieder seine Ordnung haben wird, wenn erst eine „stabile Mehrheit“ im Parlament die Geschicke des Landes lenkt. Wer Kraemers Bild „Hering und Kommissbrot“ betrachtet, fühlt, ja weiß: so lebt der Mensch. Die angeblich stabilen Verhältnisse in der Politik sind dagegen nur ferne und graue Theorie. 

 


Quai de la tournelle, 1972

Die Ausstellung im Bonner Museum des Landesverbands Rheinland lief bis 21. Januar 2018.

Der Katalog „Dieter Kraemer – Retrospektive“, hrsg. Von Gabriele Uelsberg, Wienand Verlag(160 Seiten) kostet im Buchhandel EUR 29,80, in der Ausstellung EUR 17,90.










Präsenz der Gewalt im 21. Jahrhundert: Das Galgenfeld von Paloma Varga Weisz im Arsenale. Foto: artcorrespondent


Entschlossene Frauen, das Transzendente und die Erfahrung der Zeit

Impressionen von der 51. Biennale, Venedig 2005 / Von Joachim Stark 

 
 
Was sind die die Themen, Medien und Techniken, mit denen sich die Weltkunst der Gegenwart beschäftigt? Werden Leinwandbild und Skulptur endgültig von Video-Installation und Environment verdrängt? Die Biennale des Jahres 2005 in Venedig, vor allem die Schau im Arsenale, scheint in diese Richtung zu deuten. Welche Trends werden hingegen in den regionalen Kunstschauen sichtbar, wie jener, die mit dem jährlich verliehenen Kunstpreis eines Nürnberger Zeitungsverlags verbunden ist? Bleiben sie ein Rückzugsraumraum für die eher traditionellen Medien der Bildenden Kunst? Was macht die „starken“ Werke dieser Saison aus, welche Horizonte eröffnen sie und wo sind sie zu finden? Die folgenden Betrachtungen versuchen einen Vergleich der internationalen und regionalen Entwicklungen, sowie sie die auf der Biennale noch bis 6. November zu sehen sind, und wie sie in Nürnberg bis zum 11. September im Kunsthaus zu sehen waren.

 

Auf der diesjährigen Biennale in Venedig scheinen nicht so sehr die Giardini die Richtung anzugeben. Die Trends setzt vor allem der Ausstellungsteil im Arsenale. „Always a little further“ hat Kuratorin Rosa Martinez diese Schau in den alten Hallen der Corderie und der Artiglerie genannt. Und das ist durchaus wörtlich zu nehmen. Wer etwa meint, in den Räumen des „Museum of American Art“ (Berlin) oder Mariko Moris „Wave Ufo“ (Japan) sei die Ausstellung jeweils zuende, sollte sich nicht täuschen lassen. Die mit Tuch verhängten Durchgänge führen immmer noch ein Stück weiter in neue, unerwartete Environments und zu Videoinstallationen, z.B. von Maria Teresa Hincapié de Zuluaga und Pilar Albarracin. Und auch danach, wieder am Tageslicht angelangt, geht es weiter zu einer Toninstallation von Louise Bourgeois, den geheimnisvollen Booten von Laura Belem in einem der Hafenbecken des Arsenale und schließlich erstmals auf einer Biennale präsenten „Länderpavillon“ der VR China, in einer der für Öllagertanks genutzten Werkhallen des Geländes. 

 




Ein Werk der Guerrilla Girls in der Schau im Arsenale, 2005. Foto: artcorrespondent

Diese erste impressionistische Aufzählung macht deutlich: es ist eine Biennale der Künstlerinnen. Und wenn eine subjektive Einschätzung hier erlaubt ist: die stärksten Arbeiten, vor allem im Arsenale, stammen von Frauen. Und wenn der Anspruch von Rosa Martinez ist, die Trends zumindest der mittelfristigen Zukunft in der zeitgenössischen Bildenden Kunst zu zeigen, dann dürften die kommenden Jahre von Künstlerinnen maßgeblich bestimmt werden. Ob feministische Richtungen dabei noch stark präsent sein werden, wie in den Arbeiten der Guerilla Girls, die die Arsenale-Schau mit einem geballten Angriff auf den männlich dominierten Museums- und Ausstellungszirkus und den „male gaze“ eröffnen, ist zweifelhaft. Viele Künstlerinnen transzendieren in ihren Arbeiten bereits die Gender-Problematik und finden zu neuen radikalen Aktionen und Positionen. 

 




Transzendierung der Alltagserfahrung: Die gegeneinander verdrehte Spirale von Louise Bourgeois im Arsenale. Foto: artcorrespondent

Bleiben wir im Arsenale und lassen wir kurz die nach meiner Auffassung wichtigsten Werke Revue passieren. Zuerst nennen würde ich Mona Hatoums „+ and –„ (1994-2004, courtesy Gallery Jay Jopling/White Cube London; das kreisrunde kinetische Objekt ist 27 cm hoch und hat 400 cm Durchmesser). Das aus Stahl, Aluminium, Sand und einem Elektromotor bestehende Werk beeindruckt damit, wie mit geradezu minimalistischer Einfachheit existenzielle Aussagen über das Leben und die Kunst angedeutet und ungeahnte Assoziationsräume geöffnet werden können: Es handelt sich um einen kreisrunden Behälter, der bis zum oberen Rand mit feinem Sand gefüllt ist. Die Oberfläche des Sandes wird von einem entgegen den Uhrzeigersinn kreisenden Rechen, einer der beiden Arme der „Uhrzeiger“, zu einer streng regelmäßigen Abfolge von dreieckigen Erhöhungen und Vertiefungen geformt, vergleichbar einem sauber geharkten Gartenweg. Die Unterkante  des zweiten „Uhrzeigers“ hingegen ist völlig glatt ausgeführt. Sie ebnet die trigonometrische Struktur sofort wieder ein und bewirkt eine völlig glatte Oberfläche. Versinnbildlicht wird hier der selbstvergessene Prozess des Werdens und Vergehens, des Schaffens und Zerstörens, die Wiederkehr des immer Gleichen, letztlich die Vergeblichkeit menschlichen Tuns. Zugleich ist für den Betrachter die Erfahrung der Zeit gegeben, die aber konterkariert wird durch die Wiederholung des immergleichen Prozesses, was wiederum den Eindruck von Stillstand vermittelt. Der Betrachter ist in einer absurden Situation: er sieht einen Prozess in der Zeit, der sich selbst aufhebt und negiert, also Bewegung und Stillstand in einem. . Hier sei erinnert an Mona Hatoums Installation („Homebound“) auf der Kassler Dokumenta von 2002, die ein unter Strom gesetztes Kücheninterieur spielte auf diesen Gegensatz an von Vertrautheit und Gefahr, von Banalität und unmittelbar bevorstehender Zerstörung. Stärker noch als in dem kinetischen Objekt der Biennale 2005 kam wohl die Biografie der Künstlerin zum Tragen, die in London lebt, aber palästinensischer Abstammung ist.

Beeindruckend auch das mitten im Parcours aufgebaute Environment von Paloma Varga Weisz. Die in der pfälzischen Provinz geborene und in Düsseldorf arbeitende Künstlerin hat zwei weibliche Figuren erhöht an Holzpfähle gefesselt und mit Sacktuch eingehüllt. Begleitet wird die gespenstische Szenerie dieser Folter- bzw. Hinrichtungsstätte von einer weiteren, auf einer erhöhten Plattform sitzenden in weite Gewänder gehüllte weiblichen Figur, die durch ihre sechs Arme an die indische zerstörerische Muttergottheit Kali erinnert, die zugleich Herrin der Zeit ist. Auch hier also die Erfahrung der Zeit, und die Frau als Subjekt und Objekt zugleich von Vernichtung und Gewalt. Freilich können letztere auch männlichen Ursprungs sein. Diese Deutungsebene lässt das Werk m.E. durchaus offen.


 


Mona Hatoum: "+ and -" (1994-2004), eine Allegorie des Schöpferischen und des Zerstörerischen, des Lebens und der Zeit (Arsenale). Foto: artcorrespondent


In diesem Bau auf dem Gelände des Arsenale läuft die Toninstallation von Louise Bourgeois. Foto: artcorrespondent


"Admit nothing, blame everyone": Barbara Kruger, die in diesem Jahr den Goldenen Löwen für Ihr Lebenswerk erhielt, gestaltete die Front des Italienischen Pavillon mit zeitgenössischen Slogans, die die Kultur der Macht und des Rechthabens auf den Punkt bringen. Foto: artcorrespondent

Am Ende der Corderie hängen die zwei Objekte von Louise Bourgeois an Drahtseilen in den Raum herab: Metallisch glänzende, knäuelartig verworrene, aber durch ihre Rundungen auch Weichheit und Weiblichkeit suggerierende Gebilde, die mit nichts aus unserer menschlichen Lebenswelt vergleichbar scheinen. Bourgeois führt uns damit wieder in die Grenzbereiche des Erfahrbaren und Beschreibbaren, ja, schließlich verlässt sie sogar den Bereich des Visuellen und setzt allein auf die inneren Bilder des Wahrnehmenden, die durch Töne evoziert werden, wie in der Sound-Installation „C’est le murmure de l’eau qui chante“, die in einem Lagerraum auf dem Gelände des Arsenale untergebracht ist. Frauen, vielleicht in einer Küche hantierend, singen französische Volkslieder, uner anderem „Sur le pont d’Avignon on y danse“. Dieser Entvisualisierung mittels des Akustischen bedient sich – eine eigentümliche Parallele zwischen Nestorin und Newcomer der zeitgenössischen Kunst – im Deutschen Pavillon auch Tino Sehgal, der die Aufseher durch den Raum tanzen und dabei rufen lässt: „Oh, it’s so contemporary, so contemporary… Tino Sehgal“. Diese Aktion existiert nur im Moment der Performance selbst und wird nicht durch ein Video wiederholbar und auf Dauer gestellt. Sie mahnt, sich auf die Kunst als Gegenwartserfahrung zu konzentrieren und sich nicht auf die Wiederholbarkeit des Betrachtens in der Zukunft zu verlassen. Das Kunstwerk muss Hier und Jetzt wahrgenommen und im Gedächtnis des Betrachters gespeichert werden. Hier besteht eine Parallele zu den ebenfalls zeitlich begrenzten, allerdings monumentalen Interventionen im öffentlichen Raum eines Christo Javacheff. 

 

Doch zurück zu den Gebilden von Louise Bourgeois in den Corderie. Die Grenzen des Beschreibbaren werden unterstrichen durch die Titellosigkeit des Werks ("Untitled"). Tatsächlich sind zwei Spiralen gemeint, die sich in gegenläufige Richtungen verdrehen, ein Vorgang, der unsere alltägliche Vorstellungskraft übersteigt: eine Spirale, so wie wir sie kennen, hat immer nur eine Richtung, sie windet sich noch oben oder unten. Die Gegenläufigkeit kann nicht vorgestellt, sie kann nur visualisiert werden, sie ist nur visuell erfahrbar. Das Wahrnehmen des Objekts verändert zugleich unser Vorstellungsvermögen, öffnet einen Raum jenseits des verbal nachvollziehbaren. Man könnte dies als Transzendenzerfahrung beschreiben. Louise Bourgeois’ surrealistisches Environment auf der Kasseler Dokumenta von 2002 wies ebenfalls in diese Richtung einer Rationalität, die den eigenen Gesetzen von Traumbildern folgt und die sich dem in ästhetisch-kunsthistorischen Kategorien verlaufenden Diskurs entzieht. 

Wo sollte man noch verweilen in diesem Parcours, der immer noch ein Stück weiter führt? Die Videoinstallationen von Regina José Galindo, die Performances dokumentieren, thematisieren die Gewalt, zumal gegen Frauen, in ihrem Heimatland Guatemala und bekennt sich so kompromisslos zur Einheit von Kunst und politischem Engagement. Galindo legt eine Blutspur, die zum Verfassungsgerichtshof führt und zeigt eine Operation, die sie an sich selbst vornehmen ließ (Himenoplastica, 2004). Diese künstliche Wiederherstellung der Jungfernschaft spielt auf die Sexualmoral in Lateinamerika an, ist aber auch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und der Erfahrung des eigenen Körpers, die anzuschließen scheint an Mona Hatoum, die 1994 in einer  Videoinstallation die Endoskopien vorführte, die sie an sich selbst vornehmen ließ.

 

Den Geschlechterkampf, aber auch die Auseinandersetzung mit der politischen Kultur in ihrem Heimatland Spanien zeigt Pilar Albarracín. Das Video „I will dance on Your grave“ zeigt lediglich vom Knie abwärts die Beine einer Frau und eines Mannes, die während eines Flamencotanzes Varianten von Sexualität und Gewalt zwischen den Geschlechtern durchspielen. Im letzten Saal der Artiglerie, vielleicht als abschließendes politisches Statement auch der Kuratorin gedacht, Albarracìns Video von der durch eine spanische Großstadt laufende Frau, die von einer Musikband begleitet wird, die ohne Unterbrechung das Stück „Viva Espana“ spielt. Die Frau versucht diesem akustischen Terror zu entkommen, aber es gelingt ihr nicht.

 

Etwas zurückgenommener, aber letztlich nicht minder aggressiv, wirkt das Video der aus Bangladesh stammenden und in London lebenden Runa Islam, das eine Frau beim Zerstören eines Kaffee-Porzellangeschirrs zeigt, wie sie die Einzelteile nach und nach vom Tisch fallen lässt. Das häusliche Inventar, traditionell verbunden mit der Frau, geht zu Bruch und es öffnen sich neue Räume der weiblichen Selbstbestimmung. Islam setzt sich damit ab etwa von der „Dinner Party“ einer Judy Chicago, die noch das Positive an am Schöpferischen der Frauen aufzeigen wollte, das sich im Kunsthandwerk des Porzellan-Herstellens und der Porzellanmalerei manifestierte.



Wo bleiben die traditionellen Genres? Das Ölbild ist im Arsenal die absolute Ausnahme. Die skizzenartigen, mitunter wie Kinderzeichnungen wirkenden Arbeiten von Semiha Berksoy (Istanbul) wirken im Kontext der Schau im Arsenale wie ein letztes Aufglimmen dieser traditionellen Technik. Im Italienischen Pavillon bzw. in den Länderpavillons der Giardini ist das Ölbild indes weiterhin präsent. Es gehört noch zur Erfahrung der Kunst. Z.B.im Pavillon der USA, wo Leinwandbilder von Ed Ruscha gezeigt werden. Die mal in Grisaille-Technik, mal farbig ausgeführten Bilder in der Tradition von Konstruktivismus und Minimalismus leben vom Kontrast zwischen den rechtwinkligen Industrie-Architekturformen und den dramatischen Licht- und Wolkenformationen am Himmel. Die als Firmennamen an den Gebäuden fungierenden skripturalen Elemente erweitern für den Betrachter die Bedeutungsdimensionen: Telephone, Tires, Trade School, Tool & Die. Unter den Besuchern des amerikanischen Pavillons wurde Mitte September auch der Frankfurter Galerist Michael Neff gesichtet, der 2006 die Art Frankfurt kuratieren wird. Bleibt abzuwarten, ob in Frankfurt ebenfalls Werke von Ruscha zu sehen sein werden.

 

Im Italienischen Pavillon, mit der von Maria de Corral kuratierten Schau „The Experience of Art“, hat das Tafel- oder Leinwandbild weiterhin seinen Platz, etwa mit Matthias Weischer aus Leipzig. Seine großformatigen Interieurs und Fassaden wirken sehr haptisch-körperlich. Monumental der Titel „Automat 2004“, ein Flipper-Automat, gemalt auf vier rechteckige Holzbretter. Der Automat scheint auf einer Art überdachten Terrasse zu stehen, von der Fenster und Türen illusionistisch in neue, lichtvolle Räume führen. Oder auch in dem Raum mit späten Arbeiten von Francis Bacon, die sich mit dem menschlichen Körper befassen. Alle Formate sind übrigens in Goldrahmen platziert. Einen Raum weiter konstatieren wir die Präsenz des Figurativen in den Werken von Marlene Dumas und Antoni Tapies. Auch Thomas Schütte signalisiert in seinen liegenden Torsi von Stahl- und Bronzefrauen und den Porträtzeichnungen das Interesse am Körper und der Figur. Es abzuwarten, ob die Kuratoren der Biennale 2007 und der im selben Jahr stattfindenden Dokumenta diese Entwicklung fortsetzen und ob sich sozusagen ein Bedürfnis an Gegenständlichkeit manifestiert.

 

Die Video-Installation jedenfalls, die auf dieser Biennale so dominiert, vermittelt dem Kunstwerk die Möglichkeit, die Erfahrung von Zeit zu kommunizieren, etwas, was der Malerei oder der Skulptur nur schwer gelingt. Die Zeit scheint überhaupt ein Thema, das neben Hatoum, Bourgeois, Sehgal manchen Künstler beschäftigt: z.B. im Ungarischen Pavillon die Videoinstallation von Balasz Kicsiny, der einen Mann zeigt, der schwer keuchend gegen den Uhrzeigersinn ein Uhren-Zifferblatt hinaufklettert und dabei nicht voranzukommen scheint. Eher abstrakt-Konzeptuell hingegen die Digital-Uhr von Gianni Motta am Schweizer Pavillon, die im Sekundentakt die Zeit zurückzählt bis zum Untergang des Weltalls in fünf Milliarden Jahren. Parallelen zu On Kawaras „One Million Years“ (Dokumenta 2002) drängen sich auf. Das Bewußtsein der Endlichkeit scheint jedenfalls wieder eine relevante mentale Disposition zumindest in der westlich geprägten Kultur zu sein. Zukunftsorientierung und Fortschrittsoptimismus, der Glauben an die Chancen und die Machbarkeit scheinen gegenwärtig auf dem Rückzug.

 

Festzustellen ist zusammenfassend, dass auf dieser Biennale bezüglich der künstlerischen Techniken der black cube des Video-Projektionsraums gleichberechtigt neben dem white cube steht, in dem Malerei, Skulptur und Environment gezeigt werden. Die Video-Installation ersetzt die reale Performance und stellt sie auf Dauer. Bezüglich der Inhalte bleibt die Zeit weiterhin eine wichtige Dimension künstlerischen Schaffens, aber auch das Politische. Künstlerinnen nähern sich ohne feministischen Eifer, aber ironisch und dennoch entschlossen politischen Themen. Tenor: Die Emanzipation der Frau ist nicht denkbar ohne die Emanzipation des Mannes von seinen Ritualen der Macht. 

 

Die Biennale 2005 bestätigt: Die Postmoderne dauert an. Alles bleibt möglich, und allgemein akzeptierte Unterscheidungskriterien für das Gute, das Mittelmäßige und das Irrelevante sind weiterhin nicht in Sicht. Doch andererseits gilt weiterhin: gezeigt werden der kunstinteressierten Öffentlichkeit immer nur jene Ausschnitte künstlerischen Schaffens, auf die private und öffentliche Kunstförderer, Juroren, Kuratoren und Medien den Blick lenken. Damit soll aber nicht gesagt sein, dass die Mächte des Marktes und der Manipulation freies Feld haben. Vielmehr bleibt noch etwas gültig: Kunsterfahrung ist heute „demokratischer“ denn je. Eine Deutungshoheit welcher sich berufenen fühlenden Instanz auch immer ist kaum noch herleitbar und begründbar. Das eröffnet einem weder medial noch durch Konventionen vermittelten Blick auf die visuellen Künste größere Chancen als jemals zuvor. Die Erfahrung der Kunst beginnt wieder beim schauenden Individuum, beim Subjekt und seinen persönlichen Fragen an das Kunstwerk. Fragen, auf die das Werk entweder eine Antwort geben kann, wie erschöpfend oder unvollkommen auch immer sie sein mag. Oder eben auch nicht. Dann wandert der Blick weiter auf der Suche nach einem neuen visuellen Objekt, das mehr Chancen verspricht für das Eröffnen neuer Erfahrungswelten. 
 





Bela Farago: "K.O. II" (Ausschnitt). F.: artcorrespondent


Silke Mathé: "Futter II". Foto: artcorrespondent



Bela Farago: "K.O. II", Gesamtansicht. F.: artcorrespondent

Jenseits der Videoinstallation und des Environment:

Die Gleichgültigkeit des Siegers und die zeitgenössische Olympia

Anmerkungen zur Sonderausstellung „Kunstpreis der NN“ (Juli bis September 2005)

Von Joachim Stark

Wenn man eine regionale Kunstschau, wie die jährlich stattfindende Ausstellung zum Kunstpreis der Nürnberger Nachrichten, vergleicht mit einer Mega-Schau, wie der Biennale in Venedig, dann fallen natürlich zunächst die unterschiedlichen Dimensionen ins Auge: die Zahl der ausgestellten Arbeiten ist in Nürnberg erheblich niedriger (70 bei 550 Bewerbungen; Venedig: ca. 90 international präsente Künstlerinnen und Künstler im Padiglione d’Italia und im Arsenale mit schätzungsweise 500  Arbeiten, dazu die nationalen Ausstellungen von 70 Ländern mit rund 170 Künstlern und ca. 400 Arbeiten, die Zahl der Besucher (in Nürnberg ca. 4000 im Jahr 2005, Venedig: weit über 200.000).

 

Um es griffiger zu machen: die Ausstellung im Kunsthaus Nürnberg ist in einer halben Stunde zu bewältigen. Für die Schau in Venedig muss der Besucher mindestens zwei Tage ansetzen. Wer auch noch wenigstens einige der 31 begleitenden Veranstaltungen und Ausstellungen („collateral events“; ) wahrnehmen wollte, musste wenigstens einen weiteren Tag einplanen. Doch der Aufwand lohnt: man bekommt einen Eindruck vom künstlerischen Schaffen in fast allen Regionen und Ländern der Welt. Unterrepräsentiert ist in 2005 indes wieder Schwarzafrika, eine blinder Fleck der Ausstellung, den die „Guerilla Girls“ im Arsenale zu Recht aufgriffen. Die Ausstellungsmacher sollten über Wege nachdenken, wie man schwarzafrikanischen Künstlern künftig eine Teilnahme ermöglichen kann.

 

Der Kunstpreis der Nürnberger Nachrichten fördert bewusst Künstlerinnen und Künstler, die in der Region Franken ansässig sind bzw. aus dieser Region stammen. Ausgelobt wird der Kunstpreis für Malerei, Skulptur und Originalgrafik bzw. Zeichnung. Gewürdigt werden soll über die ästhetische Qualität der Werke hinaus „insbesondere ein hohes künstlerisch-handwerkliches Niveau“ (Katalog-Vorwort 2005). Ein besonderer Akzent soll gesetzt werden „im Bereich gegenständlich orientierter Kunst“. Das heißt nicht, dass nicht auch abstrakte Arbeiten zu sehen sind. Aber mit diesen Randbedingungen ist gleichwohl eine Vorauswahl getroffen, die bestimmte, heute in der internationalen Kunst stark im Vordergrund stehende Genres praktisch ausschließt.

 

So fällt auf, dass die Video- und Toninstallation, der Film, das Environment und die Fotografie nicht vorkommen. Allenfalls die Objektkunst einer Ute Vauk-Ogawa („Turm“) oder einer Gisela Hofmann („Raumlinien XIX“) findet Eingang.

 

Bleiben wir bei der Fotografie: In Venedig hat Thomas Ruff (zusammen mit Rachel Whiteread) im Italienischen Pavillon einen der Haupträume bekommen. Im Arsenale werden zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotografien von Cristina Garcia Rodero gezeigt, die den Menschen in der Ekstase thematisieren, und damit die Dimensionen der dokumentarischen Fotografie erweitern. Ruffs Bilder zeigen, dass die Digitalisierung der Bilder unsere Wahrnehmung der Welt weiter verändern wird. Freilich: in der Fotografie ist es noch schwerer als in anderen visuellen Künsten, das Belanglose vom Mittelmaß und dieses wiederum vom Überzeugenden zu trennen.

 

Deutlich wird auch, dass die internationale Kunst zumindest für den Ausstellungsbetrieb die Videoinstallation als dominierendes Genre favorisiert. Die Videoinstallation ersetzt gleichsam die Performance, indem sie sie aufzeichnet und in geraffter Form zu beliebiger Zeit an beliebigem Ort für den Betrachter zugänglich macht. Der Künstler muss nicht mehr aktuell und in persona erscheinen und er ist dennoch mit der emotionalen Durchschlagskraft seiner Aktion präsent. Der Film, dieses machtvolle visuelle Genre des 20. Jahrhunderts, hat die konventionelle Bildende Kunst eingeholt und vielleicht sogar überholt. Neben den bewegten Bildern einer Runa Islam, einer Regina Jose Galindo, oder einer Pilar Albarracin wirkt das statische Objekt (ein Leinwandbild oder eine Skulptur) merkwürdig unauffällig. Daraus folgt: wer am Leinwandbild oder an der Skulptur festhält, muss sich künftig etwas einfallen lassen, um die Aufmerksamkeit der Betrachter zu erringen. Mona Hatoum, Paloma Varga Weisz, Louise Bourgeois (alle im Arsenale) oder auch die monumentalen Interieurs des Leipzigers Matthias Weischer (Italienischer Pavillon) scheinen die Richtung anzudeuten.

 

Der Videoclip bedeutet freilich auch eine Rückkehr zum Gegenständlichen und Figurativen. Es gibt ein neues Interesse am Menschen im Allgemeinen und am menschlichen Körper im Besonderen, an den sozialen Verhältnissen und auch am Politischen. Insofern ist der „Akzent auf der gegenständlich orientierten Kunst“, den der Kunstpreis der Nürnberger Nachrichten seit 13 Jahren setzt, im Nachhinein gerechtfertigt. Das Pendel ist wieder zurückgeschlagen. Abstrakter Expressionismus und nachmalerische Abstraktion, Konzeptkunst, ja, auch das Informel, sind anscheinend nur noch Seitenströmungen in der Gegenwartskunst.

 

So sehr also das Konzept des NN-Kunstpreises gerechtfertigt erscheint, so ist doch ebenso sehr zu prüfen, ob nicht eine Öffnung für neue visuelle Medien und künstlerische Techniken anzustreben ist. Ob Künstlerinnen und Künstler aus dem fränkischen Raum dann auch in diesen Medien arbeiten, steht auf einem anderen Blatt.

 

Gleichwohl: gibt es in der Ausstellung des NN-Kunstpreises Arbeiten, die auch im Kontext der Biennale vorstellbar wären?

 

Mir sind zumindest zwei Werke aufgefallen, die für sich genommen dieser Herausforderung standhalten könnten. Ob auch Werkgruppen dieser beiden Künstler bestehen würden, ist eine andere Frage. Jedenfalls sind es gegenständliche, figurative Bilder, die dem Interesse an der Auseinandersetzung mit dem Menschen und seinem Leben hier und heute entgegenkommen.

 

Béla Faragós „K.o. II“ ist ein starkes Bild. Die schwarzen, grauen und roten Töne dominieren diese Szene eines Boxkampfes und transportieren den Eindruck eines gewalttätigen, blutigen Geschäfts. Der Sieger hat sich bereits abgewendet, der zu Boden gegangene Gegner scheint sich in eine undefinierbare Masse aufzulösen. Ein schwarzer Schatten von einem Ringrichter schließt das Hochformat (200x130 cm) nach rechts ab. Der Boxkampf steht hier als Allegorie für das Leben der Gegenwart. Der Stärkere hat gesiegt, aber schon muss er den nächsten Kampf ins Auge fassen und kann sich seinem Gegner nicht einmal mehr mit einer Geste des Mitleids zuwenden. Der Verlierer verschwindet in der Anonymität und im Vergessen. Das Bild hat übrigens den mit 8.500 Euro dotierten Sonderpreis des Verlegers der Nürnberger Nachrichten, Bruno Schnell, erhalten. Zu Recht, wie mir scheint. Wer das Bild erwerben will, muss nicht allzu tief in die Tasche greifen. Die Preisliste weist für dieses Werk in Holzkohle, Pastell und Tusche 2.500 Euro aus. Die Künstler, die in Venedig ausgestellt werden, kosten mindestens das 10- bis 100-fache.

 

Das zweite bemerkenswerte Bild zeigt eine Frau, es wurde von einer Frau gemalt, Silke Mathé, und es trägt den Titel „Futter II“. Ob die dargestellte Frau das Futter ist (für den unsichtbaren Mann, der sie anschaut? Ja, auch den Betrachter oder die Betrachterin, dem die Dargestellte direkt in die Augen blickt?) oder ob es „Futter“ gibt für die Familie, bleibt hier offen. Aber die etwas ungelenk Dastehende mit ihrem kurzen blauen, weißgepunkteten Sommerrock und dem blau-roten Spaghettiträger-Top, mit ihrer hager-kantigen, nicht durchweg vorteilhaften Silhouette, erzählt etwas über die neue Unsicherheit der Frau, die sich als Objekt des männlichen Blicks sieht und weiß, dass sie als Objekt gesehen wird und diese Rolle vielleicht resignierend angenommen hat, Feminismus hin oder her. Klagt sie an? Wäre sie bereit sich zu wehren? Fordert sie heraus? Schwankend zwischen Angriff, Verteidigung und Resignation, auch hier wird etwas erzählt über das Leben von heute. Das Bild variiert im Grunde Édouard Manet’s „Olympia“ von 1864, allerdings ohne das Potenzial für einen ähnlichen Skandal zu haben.

 

„Olympia“ hängt heute im Musée d’Orsay und ist von praktisch unschätzbarem Wert. Silke Mathés „Futter II“, Öl auf Leinwand, 160 x 80 cm, ist vergleichsweise billig, nämlich für 2000 Euro zu haben.

 

artcorrespondent / Joachim Stark

 






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